Ein lebendiger und pulsierender Ort oder ein ganz ruhiger Ort sind wie eine große Leinwand, die mit bunten Farben und unendlichen Szenen bemalt ist. „Selbst mit verbundenen Augen könnten wir gute Bilder machen“, findet der 85-jährige bekannte britische Fotojournalist Sir Don McCullin.
Wenn wir Menschen fotografieren und dabei darauf achten, nicht einfach „den Menschen“ abzubilden, sondern einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben des Menschen, dann entstehen Bilder, die bewegen und Geschichten erzählen.
„Das Bild muss mehr als eine bloße Reproduktion einer Realität sein; Es muss eine Offenbarung von etwas anderem sein.“ – Paolo Roversi
Die Kunst der Beobachtung
Was macht das Leben mit dem Menschen? Ist das im Foto widergespiegelt? Was macht das Leben mit dem Arbeiter auf der Straße oder mit dem Hund an der Kette? Was macht das Leben mit der Kleidung an der Person oder mit ihrem Ausdruck in den Augen? Was macht die Zeit mit Gebäuden oder was macht die Sonne auf einem Gesicht? Die Kamera hilft uns, genauer zu beobachten und Spuren des Lebens wahrzunehmen.
Elliott Erwitt, der amerikanische Werbe- und Dokumentarfotograf, bekannt für seine schwarz-weiß Fotografie ikonischer und absurder Situationen des täglichen Lebens, sagt: „Für mich ist die Fotografie eine Kunst der Beobachtung. Es geht darum, an einem gewöhnlichen Ort etwas Interessantes zu finden … Ich habe festgestellt, dass es wenig mit den Dingen zu tun hat, die wir sehen, sondern viel eher mit der Art und Weise, WIE wir sie sehen.”
Neugier als täglicher Begleiter
Gehst du bewusster an Sachen heran, dann öffnen sich neue Welten, du erkennst Zusammenhänge. Das ist der Moment wo es spannend wird, denn dann eröffnen sich auch tausend neue Möglichkeiten und eine Idee oder ein Foto bekommt eine neue Dimension.
Wenn du als Fotograf das Bedürfnis hast, Menschen und Geschehnisse in deinem Umfeld fotografisch zu entdecken und festzuhalten, dann nimmst du dir die Zeit, neugierig zu sein. Und Neugier ist die Grundlage für Kreativität und Wachstum. Mit der Kamera als Werkzeug beobachtest du das Leben und damit auch dich selbst.
Sir Don McCullin beschreibt den Vorgang des Fotografierens, insbesondere bei der Streetphotography so: „Wenn du auf den Auslöser der Kamera drückst, dann ist das nicht einfach ein Knopf, den du drückst. Du gehst tiefer in deine Psychologie hinein, berührst deine Selbstzweifel über dein Umfeld, das Subjekt, die Regeln und unbekannte Faktoren.” Der britische Fotojournalist ist weltweit bekannt für seine Kriegsfotografie und Street Photography.
Verständnis für Menschen
Eine Bereicherung im Leben sind Begegnungen und Geschichten von Menschen. Einen Menschen zu fotografieren kann eine ganz kurze Begegnung sein, manchmal auch ohne Worte. Oft beinhalten diese Begegnungen zumindest ein kleines Gespräch und manchmal sogar eine etwas längere Unterhaltung. Ein Einblick in das Leben eines Fremden, eine Geschichte, eine Inspiration vielleicht.
„Was für mich magisch war, dass eine Kamera wie als Pass für die Welt dienen konnte, wie ein Schlüssel, der dir das Schloss und die Tür zu deiner Neugier und Entdeckerseele öffnen kann. Die Kamera war auch eine Möglichkeit, mich an Orte und in Situationen zu begeben, die mir viele gute Geschichten boten.“ – Fred Baldwin
Das Verständnis für Menschen und die Offenheit gegenüber Fremden wächst, wenn wir es schaffen, über den eigenen Schatten zu springen und uns für das Unbekannte öffnen. Durch das Fotografieren entsteht eine kurze, positive Verbindung. (Es sei denn, man trifft auf jemanden, der negativ auf uns und unsere Kamera reagiert. Das sind die Ablehnungen, an denen wir uns überall im Leben reiben.) Seine eigene Hemmschwelle überwinden, mit komplett fremden Menschen ins Gespräch kommen und einen gemeinsamen Faden finden ist ein Training für alle Lebenslagen. Die Kamera kann dabei wie ein Eisbrecher sein.
Dein Warum lernen
Das unangenehme Gefühl, etwas zu sehen, was ich nicht sehen sollte oder etwas zu machen, was ich nicht machen sollte, spielt immer mit bei der Fotografie, insbesondere bei der Reportagefotografie oder Streetphotography. Trete ich einem Menschen, den ich fotografieren möchte, zu nahe, auch wenn eine angemessene oder sogar weite Distanz besteht? Das Spannende ist, dass du dich für einen Moment in ihr Leben bewegst und dann gleich wieder heraus aus diesem. Und diesen kurzen Lebensmoment dieser Person nutzt du für dein Bild.
Aber wann weißt du, dass du auf den Auslöser drücken sollst oder nicht? Wenn du dein Warum nicht kennst, warum du dieses Foto oder diesen Lebensmoment in genau diesem Moment festhalten möchtest, dann drück nicht auf den Auslöser. Darüber sind sich Rüdiger Schrader und Eberhard Schuy, beide Profis und Referenten der IF/SommerAkademie, einig und sie predigen dies in ihren Workshops.
Situatives Bewusstsein
Bewusst hinschauen und beobachten. Eine Gabe, die uns heute fast verloren gegangen ist. Daraus lernen wir „vorauszusehen“, die Entfaltung von Situationen zu erkennen, bevor sie geschehen. Dann sind wir bereit mit der Kamera, den entscheidenden Moment festzuhalten. Sein situatives Bewusstsein zu schulen hilft generell im Leben, so dass wir nicht nur positive, sondern zum Beispiel auch gefährliche oder unangenehme Momente früh genug erkennen, ob im Straßenleben oder bei der Arbeit.
„Wir neigen zu sehr dazu, mit geschlossenen Augen durchs Leben zu gehen. Überall um uns herum gibt es Dinge, die wir nie gesehen haben, weil wir nie wirklich hingeschaut haben.“ – Alexander Graham Bell
Das Glück der Fotografierenden
Die Menschen, die sich der Fotografie verschrieben haben, haben das Glück, ein Werkzeug gewählt zu haben, das hilft die eigene Seele und die Seele der Welt besser entdecken und verstehen zu können.
“Fotografie gibt dir die Möglichkeit, deine Sensibilität und alles, was DU BIST zu nutzen, um etwas auszudrücken über die Welt und selbst ein Teil dieser Welt zu sein. Auf diese Weise kannst du entdecken, wer du bist und mit etwas Glück findest du vielleicht etwas, das noch viel größer ist als du selbst.“ – Peter Lindbergh
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